Wie die Geschichte der Menschheit verlaufen wird, und welche Rolle wir dabei spielen werden, wird sich in den 2020ern zeigen
Aus zahlreichen Erzählungen sind wir mit zwei archetypischen Charakteren vertraut: dem unfreiwilligen Helden und der tragischen Figur. Beim Typus des unfreiwilligen Helden handelt es sich um einen Protagonisten, welcher sich zunächst überraschend und widerwillig mit der Aufgabe konfrontiert findet, andere aus der Not zu retten oder die Welt vor dem Untergang zu bewahren. Am Ende schafft er es, allen Hindernissen und Rückschlägen zum Trotz über sich hinaus zu wachsen, nicht aufzugeben, und dem Heldenruf gerecht zu werden. Die tragische Figur hingegen kennen wir als einen Charakter, der sich und andere unwiderruflich ins Unglück stürzt. Was dieses Unglück besonders tragisch macht, ist zum einen der Umstand, dass der Protagonist eigentlich keine genuin böse Absicht verfolgt, nicht selten sogar das Gegenteil von dem anstrebt, was er letztlich selbst verschuldet. Zum anderen besteht die Möglichkeit eines alternativen, glücklicheren Ausgangs, da die tragische Figur das Unglück (zumindest theoretisch) hätte vermeiden können. Im Kontext der Klimakrise wird sich in wenigen Jahrzehnten herausstellen, inwiefern die “jetzige” Generation, welche größtenteils in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren wurde und kollektiv die gesellschaftlichen Strukturen des frühen 21. Jahrhunderts geprägt hat bzw. in den 2020ern prägen wird, eher als eine unfreiwillige Heldin oder als eine tragische Figur in die Menschheitsgeschichte eingehen wird.
In Bezug auf die Erzählung, die unsere Lebensrealität schreibt, ist die Corona-Krise gerade dabei, die moderne Zivilisation grundlegend neu zu konfiguieren. Es bleibt zu hoffen, dass wir diese Umbruchphase nutzen werden, um die längst überfällige Transition hin zu einem klimaneutralen Wirtschaftssystem zu forcieren, anstatt unter großem Ressourceneinsatz einen “Business as Usual” Pfad wiederherzustellen. Denn der dringende Bedarf nach einer effektiven Bepreisung von Treibhausgasemissionen (wie sie beispielsweise von der Bürgerlobby Klimaschutz vorgeschlagen wird) wird in einer Post-Corona Welt nicht weniger dringlich geworden sein. Auch ein enormer, derzeit unzureichend adressierter Modernisierungs- und Investitionsbedarf wird in Zukunft nicht geringer werden: Einen Großteil der bestehenden Infrastruktur zur Stromerzeugung und -verteilung, Heizsysteme, Schienennetze, öffentlicher Nahverkehr, etc. gilt es klimafreundlich und intelligent (digital) zu ersetzen, aufzurüsten oder auszubauen. Ein Modernisierungsvorhaben mit einer derart gigantischen und langfristigen Dimension, in seiner Ambitioniert vielleicht vergleichbar mit dem amerikanischen Projekt der Mondlandung in den 60ern oder der Mobilmachung für den zweiten Weltkrieg, kann eigentlich nur federführend durch den Staat (bzw. die EU) initiiert, koordiniert und finanziert werden. Sicherlich kann die Privatwirtschaft, unterstützt durch die Finanzmärkte, einen wertschöpfenden Beitrag als beratender und implementierender Partner leisten. Für sich allein jedoch, ohne staatliche Beauftragung, ist sie zu eingeschränkt in ihren Handlungsmöglichkeiten, Ressourcen, Prioritäten und treuhänderischen Pflichten, zu sehr auf kurzfristige, finanziell profitable Einzelprojekte orientiert und zu wenig auf langfristige Klimaschutz-Wirkung, soziale Gerechtigkeit oder demokratische Legitimität. Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass wir uns in einer historischen Niedrigzins-Ära befinden, was — gerade in Hinblick auf eine akute Wirtschaftskrise — auf absehbare Zeit so bleiben dürfte: noch nie in der Geschichte der Menschheit war es für die Regierungen etablierter Volkswirtschaften günstiger, sich an den Kapitalmärkten Geld zu leihen. Gleichzeitig wissen viele große institutionelle Investoren (Pensionsfonds, Staatsfonds, Versicherungen etc) nicht so recht, wohin mit Milliarden-Allokationen, welche sie gerne bevorzugt ökologisch und sozial nachhaltig — aber vor allem risikoavers — in größeren Tranchen und für längere Zeiträume investieren würden. Was liegt also näher, als die enorme derzeit bestehende Finanzierungslücke mithilfe von 20- bis 30-jährigen Klimaschutz-Staatsanleihen zu schließen? Im Gegensatz zu vereinzelten, oft als zu riskant oder zu klein erachteten Projektfinanzierungen, stellen Klimaschutz-Staatsanleihen, welche dazu verwendet werden würden, große Portfolios zahlreicher größerer und kleinerer Modernisierungsprojekte parallel in Auftrag zu geben, eine attraktive und relativ schnell umsetzbare Variante dar. Die auf diese Weise ermöglichten öffentlichen Investitionsprogramme würden nicht nur entscheidend zur Lösung der Klimakrise beitragen, sondern zusätzliche Steuereinnahmen generieren, millionen von gut bezahlten, sinnerfüllten Arbeitsplätzen schaffen, und gleichzeitig dabei helfen, eine weltweite Rezession in einen zivilisatorischen Aufbruch zu verwandeln.
In einer Zeit der Klimakrise und des Niedrigzinses sollte klar geworden sein, dass unser bisheriges Verhältnis zu neuen Staatsschulden radikal überdacht werden muss. Die Schuldenbremsen des späten 20. Jahrhunderts wurden in einer vorübergehenden Hochzinsphase etabliert, im Bestreben, die ökonomische Belastung künftiger Generationen in Grenzen zu halten. Mittlerweile befinden wir uns in einer völlig veränderten Situation, in welcher den Generationen des 21. Jahrhunderts umso höhere ökonomische und humanitäre Schäden drohen, je länger sich der Prozess der globalen Dekarbonisierung hinschleppen sollte. Die Schuldenbremse stellt heutzutage somit ein Relikt dar, welches der Rettung der zivilisierten Welt mit dem Einsatz aller zur Verfügung stehenden Ressourcen im Wege steht und unseren Kindern und Enkelkindern massiv schadet, anstatt ihnen zu dienen. Mit der Corona-Krise scheint ein Umdenken zumindest zum Teil stattgefunden zu haben — Neuverschuldungen (sowie neue Vermögenssteuern) sind zur Bewältigung einer kurzfristigen globalen Katastrophe denkbar geworden. Wie schaut es jedoch mit der Bewältigung einer langfristigen globalen Katastrophe aus? Eine der größten Bedrohungen für den langfristigen Fortbestand der Menschheit dürfte darin bestehen, dass eine Neuverschuldung, welche lediglich der Bewahrung und Rettung der gegenwärtigen Wirtschaftsstrukturen dient, die öffentlichen Ressourcen welche benötigt werden, um die Dekarbonisierung und Transformation eben jener Wirtschaftsstrukturen öffentlich zu beauftragen und voranzutreiben, verknappen würde. Trotz oder gerade wegen der Corona-Krise wird sich in diesem Jahrzehnt zeigen, inwiefern die jetzige Generation das Zeug zu einer unfreiwilligen Heldin hat, welche ein historisches Zeitfenster zu nutzen weiß, oder eines Tages als tragische Figur zur Rechenschaft gezogen werden wird.